Men­schen auf der Flucht – Ei­ne Her­aus­for­de­rung für Ge­sell­schaft und Kir­che

Os­na­brü­cker Ober­stu­fen­ta­ge be­schäf­ti­gen sich mit der „Su­che nach ge­rech­ten We­gen in der Kri­se“ (Ver­fasst von Ma­ria Doe­r­ing und Al­fred Wey­mann)

Die deut­sche Ge­sell­schaft dis­ku­tiert seit 2015 kon­tro­vers über die Flücht­lings­po­li­tik: Wie kön­nen wir die zu uns kom­men­den Men­schen men­schen­wür­dig un­ter­brin­gen? Wel­che Per­spek­ti­ven ha­ben die Mi­gran­ten bei uns? Wie ge­lingt die In­te­gra­ti­on? Wie vie­le Mi­gran­ten kann und will Deutsch­land auf­neh­men? Was kann Po­li­tik tun und wie kön­nen Bür­gern die Angst und Sor­ge vor den an­ste­hen­den Ver­än­de­run­gen ge­nom­men wer­den?

Dass es auf all die schwie­ri­gen und kom­ple­xen Fra­gen kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten gibt, stell­ten 23 Schü­le­rin­nen und Schü­ler des Rats- und des Ernst-Mo­ritz-Arndt-Gym­na­si­ums und ih­re Lehr­kräf­te in Evan­ge­li­scher Re­li­gi­on bei den dies­jäh­ri­gen Ober­stu­fen­ta­gen vom 21.-23. Ja­nu­ar 2016 fest.

Die per­sön­li­che Be­geg­nung mit ge­flüch­te­ten Ju­gend­li­chen, die ei­ne Sprach­lern­klas­se des Be­rufs­schul­zen­trums am Wes­ter­berg be­su­chen, stand am Don­ners­tag­abend im Mit­tel­punkt. Wäh­rend ver­schie­de­ner Vor­stel­lungs­run­den konn­te die an­fäng­li­che Zu­rück­hal­tung ab­ge­baut wer­den. Das In­ter­es­se und die Of­fen­heit war al­len an­zu­mer­ken und so wun­der­te es nicht, dass bei le­cke­rem Es­sen und gu­ter Mu­sik die teil­neh­men­den Schü­ler mit­ein­an­der ins Ge­spräch ka­men. Die Schü­ler der Sprach­lern­klas­se be­rich­te­ten über ih­re mit­ge­brach­ten Spei­sen, ih­re Hei­mat in Al­ba­ni­en, Bul­ga­ri­en, Eri­trea, Irak, Pa­ki­stan, Su­dan, Sy­ri­en, über ih­re ers­ten Er­fah­run­gen mit der deut­schen Kul­tur und ih­re Zu­kunfts­plä­ne, die sie in Deutsch­land ver­wirk­li­chen wol­len. Be­ein­dru­ckend war, wie al­le Sprach­bar­rie­ren über­win­den woll­ten, um mehr über die Le­bens­si­tua­ti­on der Ge­sprächs­part­ner zu er­fah­ren.

Im Mit­tel­punkt der po­li­ti­schen De­bat­te steht die Fra­ge, auf wel­che Wei­se sol­len und wol­len die EU, der Bund und die Bun­des­län­der Ein­fluss auf die Flücht­lings­be­we­gun­gen neh­men. Die Be­ob­ach­tung der ak­tu­el­len Si­tua­ti­on ruft die Fra­ge nach lan­gen Ent­wick­lungs­li­ni­en und Grund­mus­tern im Ver­hält­nis von Staat und Mi­gra­ti­on auf.

Ge­nau die­se his­to­ri­sche Per­spek­ti­ve zeig­te im Klos­ter Ohr­beck Prof. Dr. Jo­chen Olt­mer von der Uni­ver­si­tät Os­na­brück in ei­nem span­nen­den und mo­ti­vie­ren­den Vor­trag zum The­ma „Flucht, Asyl und Ein­wan­de­rung. Zur Ge­schich­te und Zu­kunft der Ge­gen­wart“ auf. Da­bei war be­son­ders in­ter­es­sant, dass die Mi­gra­ti­on vom glo­ba­len Sü­den in den glo­ba­len Nor­den ins­ge­samt ab­nimmt, wo­bei die Men­schen be­son­ders auf ih­rem Kon­ti­nent wan­dern. Hin­sicht­lich der Mi­gra­ti­ons­grün­de stell­te Prof. Olt­mer drei Aspek­te her­aus: die Wahr­neh­mung von Chan­cen (z.B. Ar­beits­mi­gra­ti­on, Bil­dungs­mi­gra­ti­on), Ge­walt als Flucht­ur­sa­che (z.B. Flucht als Fol­ge von Krie­gen) und Ka­ta­stro­phen (z.B. Na­tur­ka­ta­stro­phen). Mit­hil­fe ver­schie­de­ner Sta­tis­ti­ken konn­te er deut­lich dar­stel­len, dass dau­er­haf­tes Blei­ben, z.B. in Deutsch­land, im Kon­text von Mi­gra­ti­ons­be­we­gun­gen nicht die Norm ist. Deutsch­land sei be­son­ders 2015 Ziel vie­ler Men­schen ge­wor­den, weil die Bun­des­re­pu­blik ei­ne Nä­he zu we­sent­li­chen Kon­flikt­her­den be­sit­ze, be­stehen­de Netz­wer­ke für Mi­gran­ten sehr wich­tig sei­en, die Vor­feld­si­che­rung der EU zu­sam­men­ge­bro­chen sei, die gu­te wirt­schaft­li­che La­ge Men­schen Per­spek­ti­ven er­öff­ne und die Bun­des­re­pu­blik ei­ne po­si­ti­ve Auf­nah­me­per­spek­ti­ve bie­te (z.B. durch den Fach­kräf­te­man­gel).

Am En­de sei­nes Vor­tra­ges wur­de al­ler­dings deut­lich, dass ver­schie­de­ne Maß­nah­men not­wen­dig sind und Zeit brau­chen, um tat­säch­li­che Ver­bes­se­run­gen für Ge­flüch­te­te zu er­zie­len.

Kön­nen wir uns über­haupt vor­stel­len, was es be­deu­tet zu flie­hen? Die­se Fra­ge stand nach dem Vor­trag von Prof. Dr. Olt­mer im Mit­tel­punkt. „Die Rei­se in die Si­cher­heit“ als Brett­spiel wur­de von den Schü­lern kri­tisch be­wer­tet und dis­ku­tiert. Ei­ni­ge Schü­ler emp­fan­den die spie­le­ri­sche Um­set­zung des The­mas pro­ble­ma­tisch, wäh­rend an­de­re Teil­neh­mer die Mög­lich­keit der Per­spek­tiv­über­nah­me po­si­tiv be­wer­te­ten.

Aber wie hat die Po­li­tik und Ver­wal­tung auf die gro­ße Zahl von Ge­flüch­te­ten re­agiert? Oder vor wel­chen kon­kre­ten Her­aus­for­de­run­gen steht Nie­der­sach­sen? Und wie läuft über­haupt ein Asyl­ver­fah­ren ab? War­um dau­ern die Ver­fah­ren so lan­ge und wie ge­hen die Be­hör­den mit den An­fra­gen der Bür­ger um?

Dirk Ver­le­ger vom nie­der­säch­si­schen In­nen­mi­nis­te­ri­um gab da­zu ei­nen pra­xis­na­hen Über­blick und stell­te sich glei­cher­ma­ßen den kri­ti­schen Kom­men­ta­ren der Schü­ler. Er er­klär­te, wie die nie­der­säch­si­schen Be­hör­den seit Mit­te 2015 auf die stei­gen­den Flücht­lings­zah­len re­agier­ten. Nach dem „Kö­nig­stei­ner Schlüs­sel“ wird fest­ge­legt, wie vie­le Asyl­su­chen­de das Land Nie­der­sach­sen auf­neh­men muss. Da­bei wer­den so­wohl die Be­völ­ke­rungs­zahl als auch die Steu­er­ein­nah­men be­rück­sich­tigt. Nie­der­sach­sen un­ter­hält für Asyl­su­chen­de und un­er­laubt ein­ge­reis­te aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge so­ge­nann­te Erst­auf­nah­me­ein­rich­tun­gen. Zwi­schen Au­gust und Sep­tem­ber 2015 muss­ten aber deut­lich mehr Ge­flüch­te­te un­ter­ge­bracht wer­den, als Plät­ze zur Ver­fü­gung stan­den. So­mit sei­en al­le Kom­mu­nen nach Un­ter­brin­gungs­mög­lich­kei­ten ab­ge­sucht wor­den. Sehr an­schau­lich schil­der­te Dirk Ver­le­ger ei­ne Ein­woh­ner­ver­samm­lung, die da­zu dien­te, ein Dorf von hun­dert Ein­woh­nern mit ei­ner Auf­nah­me­ein­rich­tung von über drei­hun­dert Ge­flüch­te­ten ver­traut zu ma­chen. Trotz vie­ler skep­ti­scher Nach­fra­gen konn­te die­se Un­ter­brin­gungs­mög­lich­keit er­öff­net wer­den und dies zei­ge, dass sich der Dia­log mit den Men­schen vor Ort loh­ne. Ab­schlie­ßend sam­mel­ten die Schü­ler ei­ge­ne Ideen zu fol­gen­den The­men: Wie kön­nen Ängs­te und Vor­ur­tei­le ab­ge­baut wer­den? Wie und Wo kann man sich en­ga­gie­ren? Wel­che Chan­cen und Ri­si­ken bie­tet ei­ne Ober­gren­ze? Und was er­war­ten die Schü­ler von den Be­hör­den?

Ei­ne ganz an­de­re Per­spek­ti­ve zeig­te Prof. Dr. Tho­mas Nau­erth von der Uni­ver­si­tät Os­na­brück, näm­lich ei­ne „klei­ne Theo­lo­gie der of­fe­nen Gren­ze“. Aus­ge­hend von dem Grund­satz „Die Fremd­lin­ge sollst du nicht be­drän­gen und be­drü­cken“ (2. Mo­se 20,20) sei der Aus­tausch un­ter­schied­li­cher Ge­sell­schaf­ten, Kö­nig­rei­che, Staa­ten und Per­so­nen ein selbst­ver­ständ­li­cher Teil bi­bli­scher Schöp­fungs­ord­nung. Da­her „ma­chen of­fe­ne Gren­zen un­mit­tel­bar Sinn“, weil sie in­ner­staat­li­che Kon­flik­te und Ka­ta­stro­phen ab­mil­dern.

Von ei­ner bi­bli­schen Per­spek­ti­ve sei nicht die „Idee of­fe­ner Gren­zen un­ser Pro­blem“, son­dern dies sei nur ein Sym­ptom „des glo­ba­len Wohl­stands­ge­fäl­les“.

Auch mit dem Blick auf Tex­te im Al­ten Tes­ta­ment gibt es kei­ne ein­fa­che Lö­sun­gen, son­dern „sich den bi­bli­schen Er­zäh­lun­gen aus­zu­set­zen, macht un­ru­hig“ und for­dert uns her­aus.

In der ab­schlie­ßen­den Grup­pen­ar­beit wur­de deut­lich, dass fun­dier­tes Wis­sen hilft ei­ge­ne Vor­ur­tei­le ab­zu­bau­en. Ge­rech­te We­ge in der Kri­se kön­nen in ei­ner plu­ra­len Ge­sell­schaft

nur im Rah­men von Dis­kurs und Aus­tausch ent­ste­hen – die­sem An­lie­gen sa­hen sich al­le Teil­neh­mer der Ta­gung ver­pflich­tet.

Ver­schwie­gen wer­den soll nicht, dass ne­ben kon­zen­trier­ter Ar­beit bei Vor­trä­gen und Dis­kus­sio­nen zwi­schen­durch Zeit zum Spa­zier­gang durch die Win­ter­son­ne oder abends zum ge­müt­li­chen Bei­sam­men­sein blieb und – in­zwi­schen schon ob­li­ga­to­risch – na­tür­lich auch wie­der die Wer­wöl­fe durch das schla­fen­de Dorf ge­jagt wur­den…

Vor­be­rei­tet wur­de die Ta­gung durch den „Ar­beits­kreis Kir­che und Schu­le im Kir­chen­kreis Os­na­brück“, dem vom Rats­gym­na­si­um Frau Doe­r­ing, Frau Just, Herr Dr. Neu­haus und Herr Wey­mann an­ge­hö­ren.

Bleibt noch ein herz­li­cher Dank an un­se­re „Spon­so­ren“, den Ehe­ma­li­gen­ver­ein des Rats­gym­na­si­ums, den För­der­ver­ein des „EMA“, die evan­ge­li­sche Ju­gend­stif­tung des Kir­chen­krei­ses Os­na­brück so­wie die evan­ge­lisch-lu­the­ri­sche Lan­des­kir­che Han­no­vers.

Ma­ria Dö­ring

1632 1224 Ratsgymnasium Osnabrück
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