Grün­de der Flucht aus ei­nem un­be­kann­ten Land

Ers­tes Bi­blio­theks­ge­spräch:

Dr. Gan­golf Seitz: Eri­trea – Grün­de der Flucht aus ei­nem un­be­kann­ten Land

Am 26. Fe­bru­ar 2016 fei­er­te ein neu­es In­for­ma­ti­ons­an­ge­bot Pre­mie­re: Ehe­ma­li­ge Rats­gym­na­si­as­ten be­rich­ten im Rah­men der „Bi­blio­theks­ge­sprä­che“ aus ih­rem Er­fah­rungs­be­reich. Den An­fang mach­te der Mar­bur­ger All­ge­mein­me­di­zi­ner Dr. Gan­golf Seitz, Jahr­gang 1950, Ab­itur 1969. Er en­ga­giert sich seit vie­len Jah­ren in der Ent­wick­lungs­hil­fe. Von 1978 bis 1980 ar­bei­te­te er als Arzt in ei­nem Ur­wald­kran­ken­haus im west­afri­ka­ni­schen Si­er­ra Leo­ne. Als eh­ren­amt­li­cher Vor­sit­zen­der der Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on „Ter­ra Tech För­der­pro­jek­te e. V.“ be­reis­te er mehr­fach Kri­sen­ge­bie­te in Afri­ka und Asi­en, um Pro­jek­te aus den Be­rei­chen Not­hil­fe und Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit auf den Weg zu brin­gen.

Drei­mal führ­te ihn sein Weg nach Eri­trea, in ein Land, das in der „Hit­lis­te“ der Her­kunfts­län­der der Flücht­lin­ge sich ste­tig nach oben ge­ar­bei­tet hat und nun un­ter den afri­ka­ni­schen Län­dern den ers­ten Rang ein­nimmt. War­um flie­hen mas­sen­haft Men­schen aus ei­nem Land, von dem man in den Nach­rich­ten kaum je­mals hört? Auf der Su­che nach Ant­wor­ten stieg Dr. Seitz zu­nächst in die Geo­gra­fie, dann in die Ge­schich­te des Lan­des ein. 1890 wur­de Eri­trea ei­ne ita­lie­ni­sche Ko­lo­nie. Die Ko­lo­ni­al­her­ren drück­ten dem Land deut­lich ih­ren Stem­pel auf. Dr. Seitz be­leg­te mit zahl­rei­chen, auch fo­to­gra­fisch sehr ge­lun­ge­nen Fo­tos die bis heu­te an­hal­ten­de Prä­gung ins­be­son­de­re in der Ar­chi­tek­tur, aber auch bei Han­dels­pro­duk­ten, Au­tos, Kon­sum­ge­wohn­hei­ten und all­ge­mei­ner In­fra­struk­tur.

1941 dräng­ten al­li­ier­te Trup­pen die Ita­lie­ner zu­rück, Eri­trea kam un­ter bri­ti­sche Mi­li­tär­ver­wal­tung. Die Ver­ein­ten Na­tio­nen hiel­ten das Land für kaum über­le­bens­fä­hig in Ei­gen­stän­dig­keit und ver­ord­ne­ten da­her ei­ne Fö­de­ra­ti­on mit dem Nach­bar­land Abessinien/Äthiopien. Nach 1953 zo­gen sich die Eng­län­der sys­te­ma­tisch zu­rück, nicht oh­ne dem Land er­heb­li­che De­mon­ta­gen zu­zu­mu­ten. Ha­fen­an­la­gen, Kran­ken­häu­ser, Salz­fa­bri­ken, Ze­ment­fa­bri­ken, 300 Ei­sen­bahn­wag­gons und vie­les mehr im Ge­samt­wert von um­ge­rech­net 2,1 Mrd. Eu­ro wur­den der eri­tre­ischen Volks­wirt­schaft ent­zo­gen. 1961 be­en­de­te Kai­ser Hai­le Se­las­sie jeg­li­che po­li­ti­sche Selbst­ver­wal­tung Eri­tre­as und an­nek­tier­te es de fac­to.

Es be­gann ein 30 Jah­re wäh­ren­der Un­ab­hän­gig­keits­krieg, der 1991 mit dem Sieg der Eri­tre­ischen Volks­be­frei­ungs­front (EPLF) en­de­te. Zwei Jah­re spä­ter er­klär­te sich das Land of­fi­zi­ell für un­ab­hän­gig. Seit­dem re­giert der EPLF-Kom­man­deur Isai­as Afe­werki an der Spit­ze ei­ner of­fi­zi­ell als „Über­gangs­re­gie­rung“ ti­tu­lier­ten Jun­ta. 1997 prä­sen­tier­te er der Na­tio­nal­ver­samm­lung ei­nen Ver­fas­sungs­ent­wurf, der aber nie in Kraft ge­setzt wur­de. Seit 2002 tagt die Na­tio­nal­ver­samm­lung nicht mehr, da die meis­ten Mit­glie­der ent­we­der im Ge­fäng­nis sit­zen oder ge­flo­hen sind. Wah­len wer­den nicht mehr ab­ge­hal­ten. Ein­zi­ge zu­ge­las­se­ne Par­tei ist die „Volks­front für De­mo­kra­tie und Ge­rech­tig­keit“.

bibliotheksgesprch

Seit 1998 führt Eri­trea ei­nen nicht er­klär­ten Grenz­krieg mit Äthio­pi­en, der bis­lang 70.000 To­te for­der­te und den auch die zwi­schen 2000 und 2008 im Grenz­ge­biet sta­tio­nier­ten UN-Frie­dens­trup­pen nicht be­en­den konn­ten. Die Wirt­schaft krankt dar­an, dass die ei­ge­ne Elek­tri­zi­täts­ver­sor­gung völ­lig un­zu­rei­chend ist. Gas und Öl müs­sen voll­stän­dig im­por­tiert wer­den, da ei­ge­ne La­ger­stät­ten nicht er­schlos­sen sind. Wirt­schaft­li­cher Fort­schritt wird wei­ter­hin da­durch er­schwert, dass et­wa 50 % der Män­ner im er­werbs­fä­hi­gen Al­ter in der Ar­mee oder im Ar­beits­dienst („Na­tio­nal Ser­vice“) zwangs­re­kru­tiert sind.

Zu­neh­mend nach 1998 ha­ben die Macht­ha­ber die Bür­ger­rech­te ein­ge­schränkt, Zei­tun­gen und Rund­funk ver­staat­licht, will­kür­lich ver­haf­tet und ge­fol­tert, Chris­ten we­gen ih­res Glau­bens ver­folgt. „Re­por­ter oh­ne Gren­zen“ lis­tet Eri­trea 2015 an 180. und da­mit letz­ter Stel­le im welt­wei­ten Pres­se­frei­heits-In­dex. In Eri­trea (5 Mil­lio­nen Ein­woh­ner) sit­zen mehr Jour­na­lis­ten im Ge­fäng­nis als in Chi­na (1,5 Mil­li­ar­den Ein­woh­ner). Die staat­li­che Plan­wirt­schaft hat nichts aus dem Nie­der­gang der Volks­wirt­schaf­ten des ehe­ma­li­gen Ost­blocks ge­lernt, lässt 34 % der Be­völ­ke­rung hun­gern und weist gleich­zei­tig aus­län­di­sche Hilfs­an­ge­bo­te zu­rück. Der Staats­haus­halt speist sich, da er der völ­lig ver­arm­ten heim­ge­blie­be­nen Be­völ­ke­rung nichts mehr ab­pres­sen kann, zu gro­ßen Tei­len aus der so­ge­nann­ten „Auf­bau­steu­er“. Al­le Exil-Eri­tre­er müs­sen 2 % ih­res Ein­kom­mens in die Hei­mat über­wei­sen. Wer das nicht tut, der ris­kiert Fol­ter oder Tod sei­ner im Lan­de ge­blie­be­nen Ver­wand­ten. En­de 2011 wur­den al­le in- und aus­län­di­schen NGO’s ver­bo­ten, so­dass es für die aus­län­di­sche Pres­se im­mer schwie­ri­ger wird, ein nicht ge­färb­tes La­ge­bild zu er­hal­ten.

 

Die drang­sa­lier­te Be­völ­ke­rung in­des stimmt mit den Fü­ßen ab. Je­den Mo­nat flie­hen 2000 bis 3000, nach neu­es­ten Schät­zun­gen bis zu 5000 Men­schen. Was in Mit­tel­eu­ro­pa an­kommt, ist nur die Spit­ze des Eis­bergs. Den meis­ten fehlt es an Geld, die Schlep­per für die Boots­über­fahrt zu be­zah­len. In is­rae­li­schen La­gern sol­len sich 40.000 Flücht­lin­ge auf­hal­ten, in Äthio­pi­en 87.000, im Su­dan 125.000. „Ich kann je­den Eri­tre­er ver­ste­hen, der sei­nem Land den Rü­cken kehrt, ich wür­de es ge­nau­so ma­chen“, sag­te Dr. Seitz. Der „Cock­tail“ aus Ar­mut, Hun­ger, prak­tisch le­bens­lang dro­hen­dem Wehr- oder Ar­beits­dienst, all­ge­mei­ner Un­frei­heit, Sip­pen­haft und will­kür­li­chen Ver­haf­tun­gen ma­che das Le­ben dort zur Höl­le. Der Vor­tra­gen­de sah nichts, was ei­ne Hoff­nung auf ei­ne Ver­bes­se­rung der La­ge be­grün­den könn­te. Das re­la­tiv klei­ne Land lie­ge iso­liert am Ran­de Afri­kas. Kei­ne der grö­ße­ren Mäch­te wol­le sich sei­net­we­gen die Hän­de schmut­zig ma­chen.

Rund 50 Zu­hö­rer – Schü­ler, Leh­rer, Ehe­ma­li­ge, aber auch et­li­che In­ter­es­sier­te aus der Os­na­brü­cker Öf­fent­lich­keit – ha­ben die leb­haf­ten und mit vie­len in­struk­ti­ven Bil­dern, Land­kar­ten und Sta­tis­ti­ken un­ter­mau­er­ten Aus­füh­run­gen des in Os­na­brück auf­ge­wach­se­nen und jetzt in Goß­fel­den bei Mar­burg le­ben­den Arz­tes auf­merk­sam ver­folgt. Bei Schnitt­chen und Ge­trän­ken schlos­sen sich vie­le Nach­fra­gen an.

Text: Joa­chim Dierks

2560 1707 Ratsgymnasium Osnabrück
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