7. De­zem­ber

“ Der Christ­baum­stän­der “

Beim Auf­räu­men des Dach­bo­dens – ein paar Wo­chen vor Weih­nach­ten – ent­deck­te ein Fa­mi­li­en­va­ter in ei­ner Ecke ei­nen ganz ver­staub­ten, ur­alten Weih­nachts­baum­stän­der.
Es war ein be­son­de­rer Stän­der mit ei­nem Dreh­me­cha­nis­mus und ei­ner ein­ge­bau­ten Spiel­wal­ze.
Beim vor­sich­ti­gen Dre­hen konn­te man das Lied „O du fröh­li­che“ er­ken­nen.
Das muss­te der Christ­baum­stän­der sein, von dem Groß­mutter im­mer er­zähl­te, wenn die Weih­nachts­zeit her­an­kam.
Das Ding sah zwar fürch­ter­lich aus, doch da kam ihm ein wun­der­ba­rer Ge­dan­ke. Wie wür­de sich Groß­mutter freu­en, wenn sie am Hei­lig­abend vor dem Baum sä­ße und die­ser sich auf ein­mal wie in ur­alter Zeit zu dre­hen be­gän­ne und da­zu „O du fröh­li­che“ spiel­te. Nicht nur Groß­mutter, die gan­ze Fa­mi­lie wür­de stau­nen.

Es ge­lang ihm, mit dem an­ti­ken Stück un­ge­se­hen in sei­nen Bas­tel­raum zu ver­schwin­den.
Gut ge­rei­nigt, ei­ne neue Fe­der, dann müss­te der Me­cha­nis­mus wie­der funk­tio­nie­ren, über­leg­te er.
Abends zog er sich jetzt ge­heim­nis­voll in sei­nen Hob­by­raum zu­rück, ver­rie­gel­te die Tür und wer­kel­te. Auf neu­gie­ri­ge Fra­gen ant­wor­te­te er im­mer nur „Weih­nachts­über­ra­schung“.
Kurz vor Weih­nach­ten hat­te er es ge­schafft. Wie neu sah der Stän­der aus, nach­dem er auch noch ei­nen An­strich er­hal­ten hat­te.

Jetzt aber gleich los und ei­nen präch­ti­gen Christ­baum be­sor­gen, dach­te er. Min­des­tens zwei Me­ter soll­te der mes­sen.
Mit ei­nem wirk­lich schön ge­wach­se­nen Ex­em­plar ver­schwand Va­ter dann in sei­nem Hob­by­raum, wo er auch gleich ei­nen Pro­be­lauf star­te­te. Es funk­tio­nier­te al­les bes­tens. Wür­de Groß­mutter Au­gen ma­chen!

End­lich war Hei­lig­abend.
„Den Baum schmü­cke ich al­lei­ne“, tön­te Va­ter.
So auf­ge­regt war er lan­ge nicht mehr. Ech­te Ker­zen hat­te er be­sorgt, al­les soll­te stim­men.
„Die wer­den Au­gen ma­chen“, sag­te er bei je­der Ku­gel, die er in den Baum hing.
Va­ter hat­te wirk­lich an al­les ge­dacht. Der Stern von Beth­le­hem saß oben auf der Spit­ze, bun­te Ku­geln, Nasch­werk und Wun­der­ker­zen wa­ren un­ter­ge­bracht, En­gel­haar und La­met­ta de­ko­ra­tiv auf­ge­hängt. Die Fei­er konn­te be­gin­nen.

Va­ter schlepp­te für Groß­mutter den gro­ßen Oh­ren­ses­sel her­bei.
Fei­er­lich wur­de sie ge­holt und zu ih­rem Eh­ren­platz ge­lei­tet.
Die Stüh­le hat­te er in ei­nem Halb­kreis um den Tan­nen­baum grup­piert.
Die El­tern setz­ten sich rechts und links von Groß­mutter, die Kin­der nah­men au­ßen Platz.
Jetzt kam Va­ters gro­ßer Auf­tritt. Be­däch­tig zün­de­te er Ker­ze für Ker­ze an, dann noch die Wun­der­ker­zen.
„Und jetzt kommt die gro­ße Über­ra­schung“, ver­kün­de­te er, lös­te die Sper­re am Stän­der und nahm ganz schnell sei­nen Platz ein.

Lang­sam dreh­te sich der Weih­nachts­baum, hell spiel­te die Mu­sik­wal­ze „O du fröh­li­che“.
War das ei­ne Freu­de! Die Kin­der klatsch­ten ver­gnügt in die Hän­de. Oma hat­te Trä­nen der Rüh­rung in den Au­gen.
Im­mer wie­der sag­te sie: „Wenn Groß­va­ter das noch er­le­ben könn­te, dass ich das noch er­le­ben darf.“
Mut­ter war stumm vor Stau­nen.

Ei­ne gan­ze Wei­le schau­te die Fa­mi­lie be­glückt und stumm auf den sich im Fest­ge­wand dre­hen­den Weih­nachts­baum, als ein schnar­ren­des Ge­räusch sie jäh aus ih­rer Ver­sun­ken­heit riss. Ein Zit­tern durch­lief den Baum, die bun­ten Ku­geln klirr­ten wie Glöck­chen.
Der Baum fing an, sich wie ver­rückt zu dre­hen.
Die Mu­sik­wal­ze häm­mer­te los. Es hör­te sich an, als woll­te „O du fröh­li­che“ sich selbst über­ho­len.
Mut­ter rief mit über­schnap­pen­der Stim­me: „So tu doch et­was!“
Va­ter saß wie ver­stei­nert, was den Baum nicht da­von ab­hielt, sei­ne Ge­schwin­dig­keit zu stei­gern. Er dreh­te sich so ra­sant, dass die Flam­men hin­ter ih­ren Ker­zen her­weh­ten.
Groß­mutter be­kreu­zig­te sich und be­te­te. Dann mur­mel­te sie: „Wenn das Groß­va­ter noch er­lebt hät­te.“

Als Ers­tes lös­te sich der Stern von Beth­le­hem, saus­te wie ein Ko­met durch das Zim­mer, klatsch­te ge­gen den Tür­rah­men und fiel dann auf Fe­lix, den Da­ckel, der dort ein Ni­cker­chen hielt.
Der ar­me Hund flitz­te wie von der Ta­ran­tel ge­sto­chen aus dem Zim­mer in die Kü­che, wo man von ihm nur noch die Na­se und ein Au­ge um die Ecke schie­len sah.
La­met­ta und En­gel­haar hat­ten sich er­ho­ben und schweb­ten wie ein Ket­ten­ka­rus­sell am Weih­nachts­baum.
Va­ter gab das Kom­man­do „Al­les in De­ckung!“
Ein Rausch­gold­en­gel tru­del­te los­ge­löst durchs Zim­mer, nicht wis­send, was er mit sei­ner plötz­li­chen Frei­heit an­fan­gen soll­te.
Weih­nachts­ku­geln, ge­füll­ter Scho­ko­la­den­schmuck und an­de­re An­häng­sel saus­ten wie Ge­schos­se durch das Zim­mer und platz­ten beim Auf­schla­gen aus­ein­an­der.

Die Kin­der hat­ten hin­ter Groß­mutters Ses­sel Schutz ge­fun­den. Va­ter und Mut­ter la­gen flach auf dem Bauch, den Kopf mit den Ar­men schüt­zend.
Mut­ter jam­mer­te in den Tep­pich hin­ein: „Al­les um­sonst, die vie­le Ar­beit, al­les um­sonst!“
Va­ter war das al­les sehr pein­lich. Oma saß im­mer noch auf ih­rem Lo­gen­platz, wie er­starrt, von oben bis un­ten mit En­gel­haar und La­met­ta ge­schmückt. Ihr kam Groß­va­ter in den Sinn, als die­ser 14-18 in den Ar­den­nen in feind­li­chem Ar­til­le­rie­feu­er ge­le­gen hat­te. Ge­nau so muss­te es ge­we­sen sein.
Als ge­füll­ter Scho­ko­la­den­baum­schmuck an ih­rem Kopf ex­plo­dier­te, re­gis­trier­te sie tro­cken „Kirsch­was­ser“ und mur­mel­te: „Wenn Groß­va­ter das noch er­lebt hät­te!“
Zu al­lem jaul­te die Mu­sik­wal­ze im Schlupf­ak­kord „O du fröh­li­che“, bis mit ei­nem äch­zen­den Ton der Stän­der sei­nen Geist auf­gab.

Durch den plötz­li­chen Stopp neig­te sich der Christ­baum in Zeit­lu­pe, fiel aufs kal­te Buf­fet, die letz­ten Na­deln von sich ge­bend.
To­ten­stil­le! Groß­mutter, ge­schmückt wie nach ei­ner New Yor­ker Kon­fet­ti­pa­ra­de, er­hob sich schwei­gend.
Kopf­schüt­telnd be­gab sie sich, ei­ne La­met­ta­gir­lan­de wie ei­ne Schlep­pe tra­gend, auf ihr Zim­mer.
In der Tür ste­hend sag­te sie: „Wie gut, dass Groß­va­ter das nicht er­lebt hat!“

Mut­ter, völ­lig auf­ge­löst zu Va­ter: „Wenn ich mir die­se Be­sche­rung an­se­he, dann ist dei­ne gro­ße Über­ra­schung wirk­lich ge­lun­gen.“
An­dre­as mein­te: „Du, Pa­pi, das war echt stark!

Ma­chen wir das jetzt Weih­nach­ten im­mer so?“

150 150 Ratsgymnasium Osnabrück
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